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Bild : Wildschutzzaun mit ungestörter und gut gedeihender Weisstannenverjüngung im Misox. Foto: Esther Frei/SLF Die Autorinnen und Autoren sind aktuell für folgende Institutionen tätig: 1WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF), Davos, 2, 3Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL), Cadenazzo respektive Birmensdorf, 4Fachstelle für Gebirgswaldpflege (GWP), Maienfeld, 5Eberhard Bau AG, Kloten, sowie 6Amt für Wald und Naturgefahren, Graubünden (AWN), Roveredo.

Verband & Politik | ZeitschriftenLesezeit 4 min.

Wilddruck verhindert Verjüngung von Weisstannen im Schutzwald

Wenig Erfolg trotz hohem Potenzial: Eine mehrjährige Studie zeigt, dass die natürliche Verjüngung der Weisstanne in den Schutzwäldern im Misox (GR) grundsätzlich möglich ist, dass aber starker Wildverbiss einen erfolgreichen Aufwuchs verhindert.

Esther R. Frei1, Marco Conedera2, Peter Bebi1, Samuel Zürcher4, Alena Bareiss5, Laura Ramstein3, Nicola Giacomelli6,
Alessandra Bottero1 | Der Klimawandel kann die Schutzfunktion von Gebirgswäldern beeinträchtigen. Eine nachhaltige Verjüngung von klimaangepassten Schlüsselbaumarten, wie der Weisstanne (Abies alba Mill.), ist wichtig für die Erhöhung der Vielfalt und Resilienz in Schutzwäldern und somit für deren langfristige Funktionsfähigkeit. Allerdings können hohe Wildtierdichten den Verjüngungserfolg beeinträchtigen. Um konkrete Massnahmen zur besseren Anpassung von Gebirgswäldern an den Klimawandel planen zu können, ist ein besseres Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Wald und Wildtieren entsprechend wichtig.

Forstfachleute weisen seit Langem darauf hin, dass sehr grosse Wildbestände eine nachhaltige Waldverjüngung in Schutzwäldern grossflächig behindern oder sogar vollständig verunmöglichen (zum Beispiel Bebi et al., 2023). Die verbissanfällige Weisstanne ist oft besonders betroffen, zum Beispiel in einigen Misoxer Schutzwäldern, in denen in den letzten Jahren auffällige Verjüngungsprobleme festgestellt wurden. Um das tatsächliche Ausmass des Problems zu untersuchen, hat die Eidgenössische Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in dieser Region im Zeitraum von 2016 bis 2022 eine mehrjährige Beobachtungsstudie durchgeführt (siehe auch Frei et al., 2024).

Die Studie wurde an zwei Standorten in Schutzwäldern der Misoxer Gemeinden Lostallo und Soazza durchgeführt. Der Standort Soazza befindet sich am Osthang auf 950 bis 1200 m ü. M. und liegt in einem Nadelmischwald mit Weisstanne. Der Standort Lostallo befindet sich am Westhang in einem etwas höher gelegenen, von Weisstannen dominierten Nadelwald (1250 bis 1500 m ü. M.). Die Verjüngungsdynamik der Weisstanne wurde in 30 Probekreisen mit einem Radius von je 5 m ermittelt
(14 davon in Lostallo und 16 in Soazza), in denen die Verjüngung in den Sommern 2016, 2019 und 2022 erhoben wurde.

Jeder Probekreis wurde gezielt rund um bereits vorhandene Weisstannenverjüngung gelegt. Bei jeder Aufnahme wurde zuerst alle in den Probekreisen wachsende Weisstannenverjüngung (alle Weisstannen mit einer Höhe zwischen 10 und 200 cm) relativ zum markierten Probekreiszentrum georeferenziert. Aus­serdem wurden deren Höhen gemessen. Anschliessend wurde ermittelt, wie stark sie verbissen sind. Dazu kamen die vier Klassen gemäss Kupferschmid et al. (2014) zur Anwendung: Kein Verbiss (Klasse 1), Nur die Endknospe verbissen (Klasse 2), Ein Teil des letzten Höhenzuwachses verbissen (Klasse 3), Grosse Teile des Höhenzuwachses oder alle End- und Seitentriebe stark abgeäst (Klasse 4).

In jedem Probekreis wurde jeweils auch erfasst, wie viel Weisstannenansamung (Höhe <10 cm) vorhanden ist. Bei der letzten Aufnahme im Jahr 2022 wurden in jedem Probekreis zusätzlich die Präsenz von Verjüngung anderer Baumarten (Höhe 10 bis 200 cm) und deren Verbissstärke erhoben. Das potenzielle Höhenwachstum der Weisstanne ohne Wildeinfluss wurde im Jahr 2022 an der Verjüngung in zwei bestehenden Kontrollzäunen am Standort Lostallo ermittelt (Bild 1). Ausserdem wurden die Bilder einer Wildkamera ausgewertet, die von November 2016 bis März 2018 am Standort Lostallo betrieben wurde, um qualitative Informationen über die Zusammensetzung und Häufigkeit der besuchenden Wildtierarten zu erhalten.

Grosses Tannenverjüngungspotenzial

Die Ergebnisse der vorliegenden Studie zeigen, dass das natürliche Verjüngungspotenzial der Weiss­tanne in den untersuchten Bergwäldern im Misox grundsätzlich gross ist. Im von Weiss­tannen dominierten Nadelwald in Lostallo war die Anzahl Weisstannen <10 cm in allen drei Jahren grösser als im Nadelmischwald am Standort Soazza, wo die Weisstanne nur beigemischt ist (Grafik 1A).
Die Schwankungen zwischen den drei Erhebungen sind wohl hauptsächlich auf die von Jahr zu Jahr unterschiedliche Samenproduktion der Weisstanne zurückzuführen, die üblicherweise einen zwei- bis dreijährigen Mastzyklus durchläuft.

Trotz dieser hohen – und für eine nach­haltige Verjüngung durchwegs genügenden – Ansamung an beiden Standorten wuchsen im Beobachtungszeitraum von 2016 bis 2022 sowohl in Lostallo als auch in Soazza nur wenige Weisstannen auf (Grafik 1B). Neben der Weisstanne wurde in Lostallo Verjüngung von Fichte und wenigen Lärchen gefunden sowie in Soazza ausserdem vereinzelt Birke, Eiche, Edelkastanie, Linde und Vogelbeere.

Wildverbiss verhindert Tannenverjüngung

Der Anteil der Weisstannenverjüngung mit Verbissschäden nahm an beiden Standorten zwischen 2016 und 2022 von 33% (Lostallo) beziehungsweise 25% (Soazza) auf fast 100% zu (Grafik 1C). Damit ging ein deutlicher Anstieg der Verbissintensität einher. Während die Weisstannenverjüngung im Sommer 2016 kaum oder nur geringfügig verbissen war, zeigte sich im Sommer 2022 an beiden Standorten überwiegend eine starke Verbissschädigung (Grafik 1D). Dies deutet auf einen stark zunehmenden Verbissdruck hin, der deutlich über dem von Eiberle und Nigg (1987) für eine nachhaltige Verjüngung festgelegten Grenzwert von 9% pro Jahr liegt.

Der Höhenzuwachs der Weisstannenverjüngung war zwischen 2019 und 2022 in den nicht eingezäunten Probekreisen mit durchschnittlich weniger als einem Zentimeter pro Jahr sehr gering. Ein erheblicher Teil der Weisstannen verlor in diesem Zeitraum sogar an Höhe, was darauf hindeutet, dass diese zumindest einen Teil ihrer Endtriebe verloren hatten. Im Gegensatz dazu wiesen die Weisstannen in den Kontrollzäunen im gleichen Zeitraum einen etwa fünfmal grösseren Höhenzuwachs auf (Grafik 2). Dies sind klare Hinweise darauf, dass der Wildverbiss der Hauptgrund für das geringe Höhenwachstum und die geringe Dichte der Weisstannenverjüngung in den Schutzwäldern im Misox ist. Ein zusätzliches starkes Indiz für den sehr grossen Verbissdruck ist, dass auch die Verjüngung von fünf der sieben anderen vorkommenden Baumarten, darunter der wenig anfälligen Fichte, Verbissschäden aufwies.

Die wenigen nicht verbissenen Weiss-
tannen wuchsen an für Huftiere unzugänglichen Standorten, zum Beispiel auf grossen Felsblöcken oder auf Wurzeltellern (Bild 3). Obwohl sie dort vor Verbiss sicher sind, werden sie kaum die erforderliche tiefe Verwurzelung erreichen können, die für die langfristige Stabilität eines grösseren Baumes notwendig ist. Dadurch werden diese Weisstannen mit der Zeit anfällig für Trockenheit und Windwurf, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie langfristig zur Regeneration des Waldes beitragen können. 

Die Wildkamera registrierte während der 511 Betriebstage 84 Besuche von wild lebenden Huftieren (Einzeltiere oder Kleingruppen von zwei bis drei Tieren). Am häufigsten wurden Rothirsche beobachtet (44,3%), gefolgt von Rehen (20,5%). Gämsen hingegen machten nur einen geringen Prozentsatz aller Besuche aus (5,7%). Obwohl diese Beobachtungen auf einen einzelnen Standort beschränkt waren, weisen sie qualitativ darauf hin, dass der Rothirsch der Hauptverursacher der Verbissschäden in der Region sein dürfte. Diese Beobachtungen stimmen mit Studien in den nördlichen Schweizer Voralpen und in den Vogesen in Frankreich überein, die den Verbiss durch Rotwild als einen Hauptfaktor für das Scheitern der Weisstannenverjüngung in der montanen Stufe identifizierten (Heuze et al., 2005, Kupferschmid et al., 2015). Mehrere milde Winter in den letzten Jahren mit geringen Schneehöhen und kurzer Dauer der Schneebedeckung haben mutmasslich zum Anstieg der Huftierpopulationen in der Untersuchungsregion beigetragen. Mit dem fortschreitenden Klimawandel dürften solche milden Winter zur neuen Normalität werden, während strenge Winter, welche die Huftiere dezimieren könnten, seltener werden.

Koordinierte Massnahmen erforderlich

Die Ergebnisse der Studie bestätigen, dass die Weisstanne in der montanen Stufe im Misox ein grosses Verjüngungspotenzial aufweist. Das ist selbst dort der Fall, wo Weisstannen als Samenbäume nur beigemischt sind. Der zunehmende Verbiss durch wild lebende Huftiere, insbesondere Hirsche, beeinträchtigt jedoch das Gedeihen der Weisstannenverjüngung stark. Dies deckt sich mit den Ergebnissen der systematischen Beobachtung des Wildeinflusses im Kanton Graubünden, die im Misox etwa ein Drittel der Waldfläche abdeckt. Diese kantonale Erhebung stellte für das Misox insgesamt über alle Baumarten betrachtet eine erhebliche bis sehr hohe Verbissbelastung fest (Vanoni, 2024). Aufgrund der Studienresultate ist davon auszugehen, dass die Situation für die Weisstanne noch schlechter ist, was bei der derzeit laufenden Revision des Wald-Wild-Berichtes der Region Hinterhein-Moesano (Cadotsch, 2024) unbedingt berücksichtigt werden sollte. Ohne angemessene Regulierung des Wildbestandes wird die Weisstanne in Zukunft keinen wesentlichen Beitrag zur dringend notwendigen Verbesserung der Anpassungsfähigkeit und Resilienz dieser Schutzwälder im Klimawandel leisten. Dadurch würden diese anfälliger gegenüber den Folgen des Klimawandels, und ihre Schutzfunktion würde infrage gestellt. Um die damit verbundenen grossen Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen, ist nicht nur ein gemeinsames Verständnis der Problematik, sondern auch eine konstruktive, intensive und verbindliche Zusammenarbeit zwischen Jagd,
Forst und weiteren Akteuren notwendig (Walser, 2024). ′

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