Home KalenderAktuelles

In der Picardie in Frankreich existiert der seltsame Brauch der Lumpenbäume, der immer wieder für Erstaunen sorgt.Fotos: Bernard Rérat

Zeitschriften | Verband & PolitikLesezeit 2 min.

Von Lumpenbäumen, Nagel­bäumen und heilenden Bäumen

In Frankreich gibt es einen seltsamen Brauch: Bäume, an denen Lumpen hängen, in denen Nägel stecken oder in denen Statuen stehen, sollen heilend wirken. Diese vermeintlich «hohen Orte» beruhen auf heidnischen Überlieferungen und Legenden aus der Heiligen-Wissenschaft.

Bernard Rérat* | Ein seltsames Gefühl beschleicht einen beim Anblick der Lumpenbäume von Senarpont. Hier in der Picardie hat der Ort fast etwas Schäbiges an sich, zumal der graue Himmel über Nordfrankreich die Tristesse dieser verwirrenden Szenerie zusätzlich trübt. Ohne Vorwarnung macht einen der Anblick der Fetzen von wettermüden Kleidern und verwaschenen Lumpen, die schlaff an den Ästen eines dünnen Unterholzes flattern, fassungslos.

Die Lumpenbäume von Senarpont, von einer kleinen Kapelle flankiert, fallen jedem auf, der auf der Strasse entlang des ehemaligen Ducrocq-Waldes geht. Doch dieser seltsame Ort, wo alter Schmerz und vergossene Tränen beinahe greifbar sind, ist ein Heiligtum der Heilung. Es ist eine seit Ewigkeiten bekannte Adresse, an der die Menschen ihren Kummer am Fusse eines kleinen Schreins mit einem Heiligenbild ablegen und ihre Beschwerden an den sie umgebenden Bäumen aufhängen.

Diese Lumpenbäume zeugen vom Fortleben alter magischer Praktiken und uralter heidnischer Glaubensvorstellungen, die wahrscheinlich auf die Zeit zurückgehen, als die Menschen Bäume als Naturgottheiten betrachteten. Der animistische Kult der Baumverehrung hat die Zeiten überdauert, und auch heute noch besteht diese Praxis bei vielen Völkern fort: bei den Burjaten in Sibirien, den Shintoisten in Japan, den Kappadokiern in der Türkei, den Bishnoi im indischen Rajasthan ... Es gibt viele Beispiele für Gemeinschaften, die an Votivbäumen festhalten.

In Nordfrankreich, aber auch in Belgien und Irland werden immer noch Fürbitten und Heilungswünsche bei Fieber und Hautkrankheiten an Lumpenbäumen angebracht. Die Kranken binden von ihnen getragene Kleidungsstücke an die Äste, in der Hoffnung, dass der Baum das Böse in sich aufnimmt und die Leidenden von ihren Beschwerden befreit.

Die heidnischen Heilrituale wurden jedoch im Laufe der Jahrhunderte christianisiert, wenn ein aussergewöhnliches und unerklärliches Ereignis eintrat, bei dem eine wundersame Handlung den christlichen Ursprung des Glaubens belegte. Dies ist in Senarpont im ehemaligen Ducrocq-Wald der Fall, der in Saint-Claude-Wald umbenannt wurde. Der Heilige stoppte 1499 den Schwarzen Tod vor den Toren des Dorfes, während die gesamte Nachbarschaft dezimiert wurde. Heute schützt ein kleiner Unterstand seine Statue. Rundherum sind einige Robinien-, Eschen-, Ahorn- und Ulmenstämme in Lumpen und Fetzen gekleidet, die an den Stämmen und Ästen befestigt sind, und bestätigen, dass sich der Glaube an heilende Bäume im Animismus und der Glaube an Wunder im Christentum überschneiden.

Am Fusse einer Eiche entsprang eine Quelle

In Le Pré-d’Auge in der Normandie ist die Eiche «Saint Méen» ebenfalls seit Hunderten von Jahren Gegenstand eines Heilungsrituals. Der alte Baum ist Anfang des 21. Jahrhunderts eingegangen, er wird aber nach wie vor verehrt. Von der einstmals majestätischen Eiche, die mehrere Hundert Jahre alt war, ist nur noch ein zerschundener Schaft übrig geblieben, ein verfallener Stumpf, der kaum ein paar Meter misst und mit einer Vielzahl von Stoffen und Tüchern behängt ist. An der Spitze des Stammes befindet sich ein Hohlraum, in dem das Bildnis des Heiligen aufbewahrt wird.

Die Legende geht auf das Ende des sechsten Jahrhunderts zurück, als der irische Mönch St. Meen die Bretagne evangelisierte. Nach einer langen Reise war er durstig und bat zwei junge Mädchen aus Le Pré-d’Auge um Wasser. Das eine Mädchen hatte Mitleid und half dem Mönch, seinen Durst zu stillen. Aus Dankbarkeit liess der heilige Mann eine leicht zugängliche Quelle sprudeln, um dem Mädchen das tägliche Wasserholen zu erleichtern. Das andere Mädchen, das einen hinterlistigen Charakter hatte, weigerte sich hingegen, dem Mönch Wasser zu geben. Zur Strafe belegte er sie mit einem Fluch: «Du sollst mit Pusteln bedeckt sein und dich hier waschen, um für deine Heilung zu beten, was dich an deinen Mangel an Nächstenliebe erinnern wird.»

So soll die Legende von Le Pré-d’Auge entstanden sein, die die Verehrung eines Mönchs eng mit einem Ritual zur Heilung von Hautkrankheiten verknüpft. Bevor die Gläubigen, die zur alten Eiche pilgerten, dem Heiligen huldigten, nahmen sie am Brunnen Waschungen an den Stellen vor, an denen sie Ekzeme, Nesselsucht und andere Aknearten hatten ... Die Rolle des wundersamen Brunnens als beruhigende Quelle erinnert auf seltsame Weise an die vorchristlichen Kulte der Urvölker, die den Wassergottheiten geheimnisvolle Heilkräfte zuschrieben. Heutzutage erlebt Le Pré-d’Auge eine Wiederbelebung, und heidnische Praktiken tauchen zwanglos aus den Tiefen der Zeit wieder auf. Zu bestimmten Zeiten des Jahres finden am Fusse der Überreste der alten Eiche mehr oder weniger magische Rituale statt.

Sargnägel und Gebete

Der Lumpenbaum ist nicht die einzige Möglichkeit, sich eines hartnäckigen Übels zu entledigen. Ein weiteres uraltes Rezept ist das Einschlagen von Nägeln in den Stamm bestimmter Bäume, denen heilende Kräfte nachgesagt werden. Eines der wenigen in Frankreich dokumentierten Exemplare versteckt sich in einem Privatwald im Departement Loire-Atlantique im Westen Frankreichs. Die Nageleiche von Pâtisseau, wie sie von den Menschen im Pays d’Ancenis genannt wird, dürfte über 400 Jahre alt sein, wenn man nach ihrer respektablen Grösse (4,20 m Umfang auf einer Höhe von 1,30 m) urteilt.

Ihr Stamm ist mit einer Vielzahl christlicher Statuen und anderer Gegenstände geschmückt: Rosenkränze, Anhänger, Kruzifixe, Medaillen, Wappen, Blumen ... Am erstaunlichsten sind jedoch die unzähligen Nägel und Reissnägel, die in der rauen Rinde der alten Eiche stecken. Einige der rostigen Nägel scheinen gut gealtert zu sein, andere wurden erst vor Kurzem angebracht. Es scheint, dass der Zauber nur wirkt, wenn man ein bestimmtes Zeremoniell einhält: Man wählt Sargnägel, reibt sie an der kranken Stelle, kommt nachts allein zum Fuss der Eiche und betet zu deren Seele, indem man siebenmal um den Baum herumgeht. Das Übel verschwindet in dem Masse, wie der Nagel eingeschlagen wird ... Hier, an diesem Ort der geheimnisvollen Kräfte und unerklärten Mächte behaupten die Menschen, tiefe kosmo-tellurische Kräfte zu spüren.

Über diese und viele weitere Themen lesen Sie in der neuen Ausgabe von «WALD und HOLZ».

Wald und Holz jetzt abonnieren

ähnliche News aus dem Wald